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„Die Bewertungen in Europa sind attraktiv – das sollte man nutzen“
Karen Ward ist Chefstrategin EMEA bei J.P. Morgan Asset Management. Die unterschiedlichen konjunkturellen Entwicklungen dies- und jenseits des Atlantiks erklärt sie so: „Die Amerikaner sind shoppen gegangen, die Europäer sparen.“
© J.P. Morgan Asset Management, Bildbearbeitung: GEWINN

Marktausblick

„Die Bewertungen in Europa sind attraktiv – das sollte man nutzen“

GEWINN traf J.P.-Morgan-Chefstrategin Karen Ward zum Talk über die aktuelle Situation an den Finanzmärkten. Fazit: US-Aktien sind teuer, europäische günstig, und bei Anleihen ist ein Erfolg fast schon programmiert. 

Von Hans-Jörg Bruckberger

31.01.2024

GEWINN: Die Aktienmärkte haben sich in der jüngeren Vergangenheit sehr volatil entwickelt: 2022 gab es einen Crash, 2023 eine positive Überraschung inklusive Zinssenkungsfantasie. Die Konjunktur dümpelt unterdessen unspektakulär vor sich hin. Wie ordnen Sie die aktuelle Situation ein?

Karen Ward: Der Markt tendiert tatsächlich von einem Extrem zum anderen – von übertriebenem Pessimismus zu überzogenem Optimismus. Ich denke, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Was beispielsweise die Inflation angeht, befinden wir uns nicht in den 1970er-Jahren, aber einzelne Aspekte der Inflation werden schon noch länger hoch bleiben, allein wegen des starken Arbeitsmarkts. Ich glaube auch, dass die US-Notenbank die Leitzinsen nicht so schnell senken wird wie vom Markt erhofft. Dennoch sollte man jetzt kein Cash horten.

GEWINN: Sondern?

Karen Ward: Anleihen sind nach wie vor interessant! Vor allem der Bereich höchster Qualität, wo man trotz aller Sicherheit um die vier Prozent Rendite bekommen kann. Wir setzen hierbei auf mittlere Laufzeiten, insbesondere auf europäische Bonds. Denn eines ist klar: Wir befinden uns am Höhepunkt des Zinszyklus. Das heißt, es gibt noch attraktive Zinsen, aber gleichzeitig die Aussicht auf steigende Anleihenkurse. Was die Börsen betrifft, sind wir vorsichtig optimistisch.

GEWINN: Apropos Zinszyklus: Besteht an dessen Ende nicht traditionell hohe Rezessionsgefahr? In den USA gab es seit den 1980er -Jahren in diesen Phasen fast immer eine Rezession …

Karen Ward: Das ist korrekt. Es gab seit 1980 nur zwei Ausnahmen: Mitte der 1980er- und Mitte der 1990er-Jahre gab es nach Überschreiten des Zinspeaks keine Rezession wie sonst immer. Folgerichtig bestehen auch aktuell einige Unsicherheiten in Bezug auf die konjunkturelle Entwicklung. Aber eines ist interessant: Seit den 1980ern zeigt sich, dass in all den Phasen, in denen die Leitzinsen nach Überschreiten ihres Gipfels gesunken sind, Anleihen Cash outperformt haben. Die stärksten Zugewinne gab es nach der bereits erwähnten Zinswende Mitte der 1980er-Jahre. Damals brachten zehnjährige US-Staatsanleihen in den darauffolgenden 24 Monaten einen Total Return von mehr als 70 Prozent. Ansonsten bewegten sich die Erträge so rund um die 20 Prozent.

GEWINN: Und wie gestaltet sich die Entwicklung der Aktienmärkte am Ende eines Zinszyklus traditionellerweise?

Karen Ward: Hier gibt es historisch betrachtet große Unterschiede, die Performance des S&P 500 variierte in den 24 Monaten nach der Zinswende stark. Nach der Jahrtausendwende gab es ein Minus von rund 25 Prozent, die beste Entwicklung gab es hingegen in den erwähnten Phasen in den 1980er- und 1990er-Jahren, in denen eine Rezession vermieden werden konnte. Infolge der Zinswende Mitte der 90er legte der S&P-500-Index sogar mehr als 60 Prozent zu, in den 80ern mehr als 50 Prozent.

GEWINN:Die Bewertung amerikanischer Aktien erscheint aktuell aber doch schon recht ambitioniert zu sein. Sehen Sie das auch so? Und wissen Sie zum Vergleich, wie beispielsweise die Gewinn-Multiples zu Beginn der erfreulichen Phasen Mitte der 1980er- und 1990er-Jahre ausgesehen haben?

Karen Ward: Im S&P 500 liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis aktuell bei rund 20. 1984 waren es zehn und 1994 zwölf. Seit 1996 errechnet sich ein Durchschnitt von 16,3. Also haben wir es bei US-Aktien aktuell schon mit extremen Bewertungen zu tun. Wenn man die Top Ten im S&P 500 herausrechnet, relativiert sich das ein wenig, aber selbst dann sind die übrigen Aktien immer noch etwas höher bewertet als im historischen Schnitt. Die Top Ten liegen beim geschätzten Kurs-Gewinn-Verhältnis indes bei fast 30.

GEWINN: Ja, US-Technologieaktien hätte man kaufen sollen …

Karen Ward: Wobei Stock-Picking gerade in diesem Sektor extrem schwierig ist! Wir haben uns sieben Stars der Dotcom-Ära angesehen, die damals teilweise sogar dreistellige Kurs-Gewinn-Verhältnisse aufgewiesen haben. Zwei dieser Konzerne gibt es heute gar nicht mehr: Nortel Networks ist in Konkurs gegangen, bei Lucent Technologies kam es zu einem Merger, die Aktie hatte seit dem Dotcom-Peak aber stark an Wert verloren. Cisco liegt seit diesem Peak etwa sechs Prozent im Minus, Intel liegt gerade einmal 26 Prozent im Plus, IBM 158 Prozent, was in Anbetracht der langen Zeit, die seither vergangen ist, aber auch nicht berauschend ist. Microsoft hat seit dem Höhepunkt der Dotcom-Blase dagegen mehr als tausend Prozent zugelegt. Also wie gesagt, es ist sehr schwierig, die echten Tech-Wunder herauszupicken.

GEWINN: Zurück zu den breiten Aktienmärkten: In Anbetracht der hohen Bewertungen in den USA sind Sie wohl eher zurückhaltend, aber wie schaut es für Europa aus?

Karen Ward: Europäische Aktien sind günstig bewertet! Sie werden seit Jahren immer günstiger. Der Discount gegenüber amerikanischen Aktien hat in den zurückliegenden zehn Jahren stetig zugenommen: von knapp fünf Prozent auf bereits rund 35 Prozent. Das geschätzte Kurs-Gewinn-Verhältnis im Stoxx Europe 600 liegt bei etwa 13, das ist nicht nur in Relation zu US-Aktien attraktiv, sondern liegt auch unter dem eigenen historischen Durchschnitt. Irgendwie scheint es derzeit so, als wolle niemand europäische Aktien.

GEWINN: Tatsächlich hat sich 2023 die US-Wirtschaft aber auch besser entwickelt als die europäische …

Karen Ward: Das ist korrekt. Und wissen Sie, was der große Unterschied war? Die Amerikaner sind shoppen gegangen! Sie haben in der Coronakrise angehäufte Ersparnisse für Konsumausgaben verwendet, und der private Konsum hat die US-Konjunktur befeuert. Europäer und noch mehr wir Briten haben hingegen weiter gespart, selbst Covid-Hilfen sind nicht in den Konsum gewandert; die Konsumausgaben sind hier bis dato ausgeblieben. Das ist auch ein Stück weit verständlich: Europa war von der Energiekrise und der Angst rund um den Ukraine-Krieg naturgemäß stärker betroffen. Dieser Trend sollte sich irgendwann aber auch wieder umkehren. Wir glauben, dass die Märkte in Bezug auf Europa insgesamt zu pessimistisch sind und in Bezug auf die USA zu optimistisch.

GEWINN: In den USA steht allerdings ein Wahljahr an – sind da nicht eher weitere Zuckerln zu erwarten, um die Wähler bei Laune zu halten, bzw. zumindest keine Stimmungskiller durch die Politik?

Karen Ward: Also ganz grundsätzlich sollte man den Einfluss der Politik auf die Finanzmärkte nicht überschätzen. Man sagt, in der Politik ist eine Woche schon eine lange Zeit. Für den S&P 500 war es historisch betrachtet ziemlich egal, welche Partei gerade an der Macht war, Ereignisse wie zuletzt beispielsweise die Covid-Pandemie und die anschließende Erholung sind das, was den Markt viel mehr beschäftigt und antreibt. In den zurückliegenden 90 Jahren gab es in Wahljahren in den USA niedrigere Durchschnittsrenditen und eine höhere durchschnittliche Volatilität für den S&P 500 als in Jahren ohne Wahlen. Dennoch wäre es ein Fehler, zu glauben, dass dies ausschließlich auf die Politik zurückzuführen sei. Zuletzt fielen die Wahljahre mit einigen der denkwürdigsten Marktereignisse der jüngeren Geschichte zusammen, etwa dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000, der Finanzkrise von 2008 und eben der Covid-19-Pandemie von 2020. Die wirtschaftliche Entwicklung ist den Märkten in der Regel wichtiger als das Geschehen in den Wahllokalen. Aber klar, im Jahr 2024 gibt es ja sehr viele wichtige Wahlen rund um den Globus. 4,2 Milliarden Menschen werden heuer wählen, das ist schon etwas. Wir wollen uns jedoch lieber auf die Fundamentaldaten konzentrieren und auf die konjunkturelle Entwicklung.

GEWINN: Dann anders gefragt: Diverse konjunkturelle Anreize haben der US-Wirtschaft zwar auf die Sprünge geholfen, aber das Ganze hat seinen Preis, nämlich eine hohe Staatsverschuldung. Wie bewerten Sie dies?

Karen Ward: Das US-Defizit ist in der Tat besorgniserregend. Allerdings kamen auch in Europa viele Gelder aus dem Wiederaufbaufonds, um die Auswirkungen der Covid-Krise abzufedern, noch nicht zur Auszahlung. Da kommt noch einiges auf uns zu, was zwar dem Wirtschaftswachstum zuträglich sein kann, aber eben auch einen Preis hat. Ich denke, wir leben in einer neuen Welt und werden nicht mehr zur Austerität zurückkehren. Ich erwarte auch bei den Fiskaleffekten eine gewisse Konvergenz zwischen den USA und Europa.

GEWINN: Sie sind tendenziell positiv für europäische Aktien – welche Branchen würden Sie derzeit bevorzugen?

Karen Ward: Also insgesamt sind wir derzeit generell noch eher vorsichtig in Bezug auf Aktien. Aber es stimmt schon, die Bewertungen in Europa sind attraktiv, und das sollte man als Investor schon nutzen. Das betrifft viele Branchen, etwa den zyklischen Konsum. Dieser Bereich ist im Vergleich zu US-Aktien dieses Sektors traditionell um etwa zehn Prozent unterbewertet, aktuell jedoch um mehr als 50 Prozent. Mir gefallen generell einige Underdogs gut. Dazu zählt auch der Finanzsektor. Europäische Banken sind teilweise extrem günstig bewertet, stehen aber gut da.

Chart: Europas Aktien sind historisch günstig

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