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Interview mit Niall Ferguson
„Die Inflation ist ein massives Problem“
GEWINN: Sie warnen schon seit Jahren vor einem Kalten Krieg 2.0. Was verstehen Sie darunter?
Ferguson: Damit meine ich, dass die USA mit China in einem sehr ähnlichen Wettbewerb befinden wie mit der Sowjetunion von den späten 1940er-Jahren bis Ende der 1980er. Ähnlich wie damals der Korea-Krieg zeigt derzeit der Ukraine-Krieg, wie weit diese Spannungen führen können und dass ein kalter Krieg auch „heiß“ werden kann. Das Albtraumszenario wäre ein Showdown des Konflikts in Taiwan, das ähnlich wie Kuba zu einem Brennpunkt des Supermächtekonflikts werden könnte. Aktuelle Umfragen zeigen, dass eine große Mehrheit der US-Bevölkerung im Fall einer chinesischen Invasion bereit wäre, für Taiwan zu kämpfen. Die Kuba-Krise war sehr nahe dran, den Dritten Weltkrieg auszulösen. Wenn der Konflikt rund um Taiwan eskalieren sollte, gibt es keine Garantie, dass wir wieder so viel Glück haben werden.
GEWINN: Hätten die westlichen Demokratien diesen neuen kalten Krieg verhindern können?
Ferguson: Nein, ich denke, das war eine bewusste Entscheidung der chinesischen Führung. Sie hätte auch in eine andere Richtung gehen können.
GEWINN: Welche Rolle sollte Europa in diesem kalten Krieg aus Sicht eines Historikers einnehmen?
Ferguson: Viele europäische Länder möchten in diesem kalten Krieg keine klare Stellung beziehen. Aber das ist keine Option, weil Westeuropa in Bezug auf seine Verteidigungsfähigkeiten vollkommen von den USA abhängig ist. Das hat der Ukraine-Krieg wieder einmal klargemacht. Es wird Zeit, dass die europäischen Staaten das endlich realisieren. Eine sicherheitspolitische Autonomie von den USA ist für Europa noch lange nicht möglich.
GEWINN: Der Krieg in der Ukraine hat auch andere Probleme bzw. Abhängigkeiten aufgezeigt...
Ferguson: Ja, bedenken Sie, fast jedes afrikanische Land ist abhängig von Weizen aus Russland oder der Ukraine. Daraus ergibt sich ein Desaster, das immer schlimmer wird, je länger der Krieg dauert. Und wie es derzeit aussieht, wird dieser Konflikt noch lange andauern. Und der Krieg demonstriert auch augenscheinlich, dass es keine Abkehr von fossilen Energieträgern über Nacht geben kann. Der einzige Weg, wie dieser Übergang zu erneuerbaren Energieträgern in Europa langfristig funktionieren kann, ist, dass man sich einen substanziellen Polster an Erdgas aus anderen Regionen und Atomenergie aufbaut. Ich glaube, es war ein schrecklicher Fehler, sich in Bezug auf die Energieversorgung selbst so abhängig von Russland zu machen. Man wird das in Europa diesen Winter erleben, wenn wir für das Abschneiden von russischem Gas die vollen Kosten tragen werden.
GEWINN: Aber woher soll Europa dann dieses Erdgas beziehen?
Ferguson: Ich finde es nicht zielführend, wenn sich Europa von der Abhängigkeit von Russland in die Abhängigkeit von Ländern im Mittleren Osten begibt. Denn diese Region wird sich in den kommenden zehn Jahren nicht stabilisieren. Das bedeutet auch, dass die USA ihre eigenen Öl- und Gasfördermöglichkeiten nicht selbst einschränken sollten, damit Europa die Möglichkeit hat, sich abseits von Russland und dem Mittleren Osten mit Erdgas zu versorgen.