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Interview mit Matteo Germano, Amundi
„Wir erwarten eine Korrektur an den Aktienmärkten“
Trotz des lebhaften Treibens und zahlreicher Termine am diesjährigen Amundi World Investment Forum in Paris ist Matteo Germano entspannt und konzentriert. Man merkt ihm an, dass er als stellvertretender Chefanleger des größten europäischen Vermögensverwalters eine gewisse Routine darin hat, einen klaren Blick auf die Wirtschaft und die Finanzmärkte zu haben und zu kommunizieren – und das, obwohl das Umfeld sehr herausfordernd ist. So trifft vor Beginn des Interviews gleich eine überraschende Nachricht ein …
Germano: Aha … die Bank of England hat den Leitzins um einen halben Prozentpunkt angehoben … das ist mehr, als die Analysten erwartet haben. Die meisten waren von einem Viertelprozentpunkt ausgegangen.
GEWINN: Warum setzt die britische Zentralbank diesen überraschenden Schritt?
Germano: Die Inflation ist dort deutlich höher als gedacht. Insbesondere die Lohnsteigerungen sind höher als die Kerninflation, was sonst nirgends der Fall ist.
GEWINN: Aber mit hoher Inflation haben auch wir in der Eurozone und in den USA zu kämpfen, oder?
Germano: Ja, die Inflationsraten sind immer noch sehr hoch und werden mit großer Wahrscheinlichkeit weiterhin über den Zielen der Notenbanken bleiben. Zwar wird die Spitzeninflation mit den sinkenden Energiepreisen zurückgehen, aber die Kerninflation steigt weiter. Insbesondere im Bereich der Dienstleistungen, wo die Lohnkosten eine größere Rolle spielen.
GEWINN: Welche Reaktion der Notenbanken erwarten Sie? Werden die Zinsen bald wieder sinken?
Germano: Die Notenbanken werden weiterhin die hartnäckige Inflation bekämpfen müssen. Die Fed und die EZB befinden sich unserer Ansicht nach zwar bereits auf dem Höhepunkt der Zinsanhebungen, aber Zinssenkungen sind 2023 nicht zu erwarten. Stattdessen sehen wir für eine längere Zeit eine weiterhin restriktive Geldpolitik.
GEWINN: Welche Auswirkungen hat das auf die ohnehin schon schwache Wirtschaft? Bisher kam es ja noch nicht so schlimm wie befürchtet, oder?
Germano: Ja, in den USA zum Beispiel war der wirtschaftliche Abschwung deutlich milder als befürchtet. Die USA haben damit eindeutig überrascht. Ein Hauptgrund dafür liegt bei den Konsumenten, deren Nachfrage sich als deutlich widerstandsfähiger als erwartet erwiesen hat. Aber wir rechnen auch hier weiterhin mit einer leichten Rezession, die ab dem vierten Quartal 2023 aufgrund der Verschärfung der finanziellen Bedingungen einsetzen sollte. So ist zum Beispiel die Zinskurve in den USA invertiert, somit zahlt man für kurzlaufende Anleihen höhere Zinsen als für Anleihen mit langer Laufzeit. Das war in der Vergangenheit meistens ein guter Indikator für eine folgende Rezession.
GEWINN: Wie sehen Ihre Erwartungen für den Rest der Welt aus?
Germano: Wir erwarten auch hier trotz einer bisher erstaunlich robusten Wirtschaft eine weitere Verlangsamung des Wachstums in der zweiten Jahreshälfte 2023. Wir prognostizieren für 2023 ein globales BIP-Wachstum von 2,9 Prozent. Dabei sollte das Wachstum in den Industrieländern mit 0,9 Prozent deutlich schwächer als in den Entwicklungsländern mit 4,2 Prozent ausfallen. Für das folgende Jahr, 2024, prognostizieren wir ein weiterhin sehr schwaches reales Wachstum von 2,5 Prozent für die Weltwirtschaft, 0,5 Prozent für die Industrieländer und 3,8 Prozent für die Schwellenländer. Und wir erleben bereits eine Rezession der Unternehmensgewinne in den USA, deutlich vor der wirtschaftlichen Rezession, die im dritten Quartal 2023 beginnen dürfte.